Liebe Gemeinde!
Ich möchte Ihnen eine kleine Geschichte erzählen – An einem kalten Morgen vor einigen Jahren steht ein Straßenmusiker in einem zugigen
U-Bahnhof. Er spielt auf einer Violine sechs Stücke mit einer Gesamtdauer von rund 45 min. Es gehen über 1000 Menschen, an dem Musiker vorbei. Nicht einmal zehn von ihnen bleiben für einen Moment stehen, um zuzuhören. Rund 20 geben etwas, aber ohne ihr Lauftempo zu mindern. Am Ende befinden sich knapp über 32 € in dem Hut des Violinisten. Der Mann, der dort spielte, war Joshua Bell, einer der größten Musiker unserer Zeit. Die Violine, auf der er spielte, war eine 3,5 Millionen-Dollar-Stradivari. Die ausgesprochen schwer zu spielenden Melodien waren von den berühmtesten Komponisten geschrieben. Zwei Tage zuvor hatte er ein ausverkauftes Konzert mit denselben Stücken gegeben, der Durchschnittspreis für eine Karte betrug 100 € …Diese wahre Geschichte hat mich sehr berührt. Spontan fragte ich mich: Wie abgestumpft sind wir doch oft in unserem Alltag, dass wir uns nicht die Zeit nehmen, etwas Wundervolles auch nur wahrzunehmen? Wie oft erkennen wir gar nicht die Geschenke, die uns gereicht werden? Und stellt tatsächlich erst ein (hohes) Preisschild sicher, dass wir etwas überhaupt wertschätzen können?
Nach dem Lesen dieser Geschichte wurde mir wieder sehr bewusst,
was Leben für mich ausmacht:
immer bereit zum Staunen zu sein,
mich begeistern zu können,
Magie zu erkennen,
Wunder zu entdecken,
Zeit zu haben für Unvorhergesehenes und
die Freiheit, inne zu halten,
wenn etwas meine Aufmerksamkeit fesselt und nicht einfach weiter zu rennen in meinem Stress … Vieles davon sind natürliche Teile meines Seins, aber manches verliere ich, wenn ich zu sehr in den Anforderungen meines Alltags eingebunden bin. Wenn ich mich selbst trieze, weil ich funktionieren muss, und wenn ich mit Scheuklappen durch die Gegend hetze, weil ich glaube, nur so alles schaffen zu können. Und vor allem immer dann, wenn ich den Kontakt zu mir selbst verliere. Bei dem oben beschriebenen Experiment waren es vor allem die Kinder, die eigentlich stehen bleiben und dem Mann zuhören wollten. Doch sie wurden weitergezogen, keine Zeit, keine Zeit. Auch in mir sind es vor allem die kindlichen Teile, die sich verzaubern lassen von dem schillernden Käfer oder dem kleinen, vergolden Türknauf oder dem liebevoll eingerichteten Café oder von der Jonglierkunst des Straßenakrobaten. Und ich weiß genau, wie es sich anfühlt, wenn mein Antreiber-Ich das Kind und all die anderen Teile in mir, die sich die Zeit nehmen für die Vielfalt unserer bunten, schönen Welt, weiterzerrt oder voran schubst … Genau so möchte ich nicht leben.
Achtsam zu sein, heißt wertschätzen zu können,
was uns das Leben bietet – jeden Tag neu.
Heinz Balke, Diakon im St. Bernhard-Hospital
Auszug aus dem Wochenbrief Nr. 27