Liebster Jesus,
wenn ich dich so anspreche, komme ich gleich ins Straucheln. Denn ich gebe zu: dich so, wie wir es in einem alten Kirchenlied hören oder auch in meiner Lieblingsarie aus dem Weihnachtsoratorium – also als „den Liebsten“ oder „den Schönsten“ -, dich so anzusprechen fällt mir schwer. Meine Liebsten, das sind meine Familie und einige wenige Menschen darüber hinaus. Du stehst ja auch ganz weit oben, aber irgendwie anders, mehr so als Wegweiser oder Fels in der Brandung oder als der Verwandler.
Aber eben das forderst du von dem Gesetzeslehrer, der dich nach dem wichtigsten Gebot fragt, und damit ja auch von uns: Gott – oder dich – zu lieben mit ganzem Herzen, ganzer Seele und ganzem Denken. Und als ob das nicht schon anspruchsvoll genug wäre, schiebst du gleich noch einen hinterher: Denn ebenso wichtig ist es, den Nächsten zu lieben, so sehr, wie man sich selbst liebt. Überschätzt du da die Menschheit nicht ein wenig? Sich selbst zu lieben, fällt ja schon nicht immer leicht. Aber bei der Liebe zum Nächsten, da sehe ich an vielen Stellen in der Welt Totalversagen.
Es wäre super, wenn das mit der Liebe zum Nächsten so einfach klappen würde, aber schau dich doch nur mal um in deiner Heimat oder in meiner. Gegen Terror, Vernichtungswillen, Kriegstreiberei und Rassismus ist die kleine Flamme Liebe so schwach.
Vielleicht kannst du uns ein wenig entgegenkommen und die Ziele nicht zu hoch hängen. Vielleicht fangen wir erst mal damit an, jedem einzelnen Menschen in der Welt Existenzberechtigung, Menschenwürde, Achtung und Wertschätzung zuzugestehen und uns dafür einzusetzen. Und vielleicht kommen wir dem, was du „Liebe“ nennst, und der Vision, die du von unserem Zusammenleben hast, ja schon ziemlich nahe. Was hältst du davon?
Ich bin gespannt auf deine Antwort, liebe Grüße
Gertrud Sivalingam, Pastoralreferentin

Auszug aus dem Wochenbrief Nr. 44